Vor 20 Jahren: 70.000 um den Leipziger Ring

(Bildhinweis siehe Artikelende!)

Leipzig in den Abendstunden des 9. Oktobers 1989. Die Staatsfuehrung ist willens und bereit, heute die geplante Demonstration im Anschluss an das Montagsgebet in der Nikolaikirche gewaltsam niederzuschlagen, ein Exempel zu statuieren. Dazu stehen 8000 Mann bewaffneter Organe – MfS, Schutzpolizei, VP-Bereitschaft (in der Essener Strasse sind die 21. und die 5. stationiert), Kampfgruppen (die paramilitaerische Organisation der SED) – bereit. Man rechnet mit bis zu 50.000 Demonstranten. Lageraehnliche Internierungen z.B. auf dem AGRA-Gelaende (Landwirtschaftsausstellung)  an der Stadtgrenze zu Markkleeberg im Sueden Leipzigs sind vorbereitet. Blutkonserven liegen bereit.

Gespannte Ruhe ueber der Stadt. In Seitenstrassen besonders innerhalb des Ringes in Naehe Nikolaikirchhof (in der tangierenden Ritterstrasse befindet sich das Polizeirevier der Innenstadt) und Dittrichring (“Runde Ecke”) sieht man Mannschaftstransportwagen W50 und LO. Absperrungen.

Radio DDR II Sender Leipzig sendet mehrfach Warnungen, die Innenstadt zu meiden. In der Leipziger Volkszeitung erklaert sich ein Kampfgruppenkommandeur, heute hart durchzugreifen.

18:00. Die Tuer der Nikolaikirche oeffnet sich. Die davor wartenden Demonstranten im voellig ueberfuellten Nikolaikirchhof bewegen sich in Richtung Karl-Marx-Platz (heute wieder Augustusplatz), biegen in die Goethestrasse und vor der Hauptpost auf den Ring in Richtung Ostseite des Hauptbahnhofes ein. Sie werden mehr und mehr.

Ueber Stadtfunk wird der Aufruf der “Sechs von Leipzig” verlesen:

“Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengefuehrt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Loesung. Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch ueber die Weiterfuehrung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Buergern, ihre ganze Kraft und Autoritaet dafuer einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung gefuehrt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog moeglich wird.

Es sprach Kurt Masur.”

Die bewaffneten Organe haben keine klare Weisung aus Berlin. Die Stasizentrale wird verdunkelt, man geht zur Eigensicherung ueber. Kapituliert vor 70.000 friedlichen Demonstranten an diesem Abend in Leipzig, dem wichtigsten Tag im Herbst ’89.

Am 16. Oktober 1989 nehmen bereits 120.000 Demonstranten teil, eine Woche spaeter auf der groessten Montagsdemonstration 320.000.

Bildquelle: Deutsches Bundesarchiv (German Federal Archive), Bild 183-1990-0922-002
Urheber: Gahlbeck, Friedrich
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